Sehr geehrter Herr Direktor!
Ich habe Sie nicht oft gesehen. Ob Sie mich wahrgenommen haben, weiß ich nicht. Ob Sie wahrnehmen, was in Ihrem Heim vor sich geht – auch was das betrifft bin ich unsicher. Ich erlaube mir daher, Ihnen beiliegend meine Aufzeichnungen über das bei Ihnen verbrachte Jahr zu übersenden. Es ist eine Hinterlassenschaft unter Wahrung des Amtsgeheimnisses.
Ein Jahr bei Ihnen ist sehr lang.
Hochachtungsvoll
F.K.
P.S.: ‚Warum erst jetzt?’ werden Sie fragen. ‚Jahre später?’
Lesen Sie, lesen Sie. Sie können sich die Antwort sodann selbst geben.
Herr Direktor! Auf Zeit, auf Zeit – da kann der Mensch viel aushalten, das habe ich gehört. Wenn ein Mensch weiß, dass sein Leiden zeitlich begrenzt ist, kann er großes Leid ertragen. Ich sei zu Ihnen aus freien Stücken gekommen, werden Sie sagen. Ja, ich habe den Dienst mit der Waffe verweigert, ich wusste nicht, dass auch hier, in dem Ihnen unterstellten Haus, mit Waffen gekämpft wird, mit anderen, subtilen, die anders brechen. Und ich war einer der wenigen, die hierherkamen, die nicht schon zuvor gebrochen waren.
- Ich befinde mich in einem Hochsicherheitshaus, nach Tagen werde ich würdig befunden, einen Schlüssel zu bekommen, der fast alle Türen öffnet. Ich erhalte den Schlüssel mit der Androhung, sein Verlust ziehe einen größeren Schaden nach sich als der Verlust des kleinen Fingers. Die Drohung kommt vom Leiter meiner Gruppe, der Gruppe I, von Herrn H.. An meinem zweiten Tag erhalte ich von Herrn H. eine Zivildienstanstecknadel, sie definiert mich, sichtbar für alle, als ‚Hilfskraft’. Haushälterin Anna ist die erste, die mir das Du-Wort anbietet.
- Einkäufe schleppen – Chinakohlsalate, die ein Kilo weit übersteigen, Kartoffelsäcke zu fünf Kilo, Steigen Milch à zehn Liter – das ist stimmig für eine Hilfskraft. Hausübungen kontrollieren, Rechenaufgaben erfinden – das lässt Hoffnung aufkommen. In den Ordnern mit den Tagesberichten, in die ich Einblick erhalte, finde ich nicht eine positive Bemerkung – ausschließlich Sanktionen, Regelverstöße. Die beurteilten, vielmehr verurteilten, Jugendlichen verhalten sich nicht, sie fehl-verhalten sich.
Herr Direktor, ich bin kein Psychologe geworden, ich habe mich der Mathematik zugewandt und dennoch, ich habe den Begriff ‚positive Verstärkung’ schon einmal gehört. Versuchen Sie es einmal damit, vielleicht vorerst bei Ihren Mitarbeitern.
- Geschirr waschen, Kaffee kochen, Küche sauber machen - ich bekomme vom Gruppenleiter Herrn H. die Auszeichnung, derzeit die einzige Hilfskraft im Haus zu sein. Alles Befohlene ist erledigt, ich setze mich aufs Sofa im Erzieherzimmer, ich schlage ein Buch auf. Das ziemt sich nicht für eine Hilfskraft. Selbst wenn nichts mehr sauber zu machen ist, ist es immer noch sinnvoller, den Geschirrspüler beim Spülen zu überwachen, als sich weiterzubilden.
- Montagabend ist Gruppenabend - er ist für Beschwerden und Wünsche von Seiten der Jugendlichen vorgesehen. Bringt ein Jugendlicher tatsächlich eine Beschwerde vor, wie eine seiner Meinung nach nicht gerechtfertigte Ausgangssperre, hält Gruppenleiter H. mit aller Härte dagegen. „Wie hättest du dir das ersparen können?“
- Robert kommt wieder einmal eine halbe Stunde vor Mitternacht ins Heim zurück. Um diese Zeit muss er klingeln. Er hat sich als Verstärkung seine Oma mitgebracht. Nur – das weiß Herr H. nicht. Er hat heute Nachtdienst.
„Wer ist da?“ Ungehalten fragt er es in die Gegensprechanlage. „Der Robert.“
„Du gehst mir schon langsam am Arsch!“ Der Herr Gruppenleiter tobt.
„Meine Oma ist auch da“, sagt Robert leise, zu spät. Zumindest weiß Oma nun, woher das verbale Fehlverhalten ihres Enkels herrührt.
- „18-Jähriger erhängte sich im Jugendheim“. In unserem Jugendheim - Bernhard!
Was sagten Sie, Herr Direktor, zur Zeitung? „Mehr als 30 Jahre hat es bei uns keinen Selbstmord gegeben, aber er gehört leider auch zu unserem Leben und lässt sich, wie man sieht, nicht verhindern.“
- Die Pflegeeltern, bei denen Bernhard zuvor untergebracht war, hatten ihn gerade noch gerettet. Er stand schon am Dachboden, mit einem Strick um den Hals. Der weitere Weg war klar: Geschlossene Abteilung der Jugendpsychiatrie, offene Abteilung der Jugendpsychiatrie, zurück ins Heim, Versuch ‚Pflegeeltern’ gescheitert. Ein paar Stunden im Heim, erhängt mit einem Kabel. Da gab es keine Rettung mehr. Wer Suizidandrohungen zu oft als Erpressungsmittel einsetzt, der hat sein Recht auf Rettung verwirkt.
Zwei Tage betretene Stimmung, die Hilfskräfte müssen in einem schlammigen Feld 200 Stück Sonnenblumen pflücken gehen – jeder Trauergast eine Blume.
- Nach drei Tagen ist das Heim der Trauer überdrüssig, es sehnt sich nach Alltag. Das ist nicht möglich, heute ist Beerdigung. Die strengen Essenszeiten sind aufgelöst, es gibt Suppe vor der Bestattung, einige können nichts essen. Herr H. beordert die Jugendlichen ins Büro, Papier- Taschentücher ausfassen. Robert geht nicht. Gruppendruck ist zu spüren: Bist du sicher, dass du nicht weinen wirst? Hast du den Verstorbenen nicht geschätzt? Alle Jugendlichen in ‚fein’, in Schwarz, verlassen das Haus. Ich, die Hilfskraft mit der Anstecknadel, darf das Haus hüten und das Telefon abheben.
- Die zu verrichtenden Arbeiten werden mir von Herrn H. befohlen: Beim
Bürgerservice an- und abmelden, ins Krankenhaus bringen, von der Psychiatrie abholen, von Großmüttern abholen, zur Müllentsorgungsanlage fahren, verhakte Papierknäuel aus dem Schredder entfernen, kochen, backen, Geschirrspüler ein- und ausräumen, Betten abziehen, Betten beziehen, Bettwäsche waschen, Vorhänge aufhängen. Es gibt auch in Fragen verpackte Anweisungen. ‚Magst du Matratzen saugen?’ lässt de facto nur eine Antwort zu, nämlich ‚ja’. Ich lerne, wie man Motteneier aus Matratzen heraussaugen kann. Man muss die Matratze mit einem Plastiksack umhüllen, einen Staubsaugerschlauch hineinstecken, den Sack zumachen. Nach einer halben Stunde Luft heraussaugen ist die Matratze auf die Hälfte geschrumpft. Sie sieht aus wie ein luftdicht verpacktes, eingeschweißtes Käsestück. Die Eier der in der Matratze lebenden Milben sind liquidiert.
Ich kam mit hehren Motiven, Herr Direktor: Ich absolviere meinen Dienst am Vaterland in einer sozialpädagogischen Einrichtung. Ich wollte lernen, mit Menschen hilfreich umzugehen. Ich hätte Kraft gehabt, zu helfen, mitzuhelfen.
- Meinen abwertend gemeinten Titel ‚Hilfskraft’ trage ich inzwischen mit
Stolz und Würde.
Es gelingt mir, aus Herrn H.’s Art und Weise zu kommunizieren, den Rückschluss zu ziehen, ob am Vormittag die Psychologin im Heim war. An solchen Tagen zeigt Herr H. bei den abendlichen Gruppenbesprechungen bemerkenswerte pädagogische Ansätze, so zum Beispiel zum Thema ‚Vorbildwirkung’. Natürlich meint er damit nicht sich, sondern die Älteren der Gruppe im Verhältnis zu den Jüngeren. Die Psychologin kommt höchsten einmal pro Woche.
- Ich ordne Akten, blättere in Unterlagen von Jugendlichen. Ärzte, Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiterinnen urteilen, beurteilen, verurteilen. Will ich diese Informationen wirklich haben, brauche ich sie? Kann ich einem Jugendlichen nach diesen Informationen noch vorurteilsfrei begegnen? Oder hilft mir gerade mein Wissen, ihn besser zu verstehen? Ich habe noch keine Antwort.
- Nina ist wieder auf der Flucht. Ich darf die Meldung über ihre
Entweichung an die Kriminalpolizei faxen. Sie finden sie immer. Und sie flieht wieder. Und sie kommt wieder in den SR-Raum. ‚SR’ steht für ‚Selbst- Reflexion’. Der Raum befindet sich im Keller, es gibt ein Bett, ein Waschbecken, eine Dusche, Verpflegung gibt es keine.
Worüber, Herr Direktor, werden die zurückgeholten Geflüchteten reflektieren? Über sich? Oder vielmehr über die sie wieder erziehen Wollenden? Darüber, dass sie von Menschen umgeben sind, die ihnen nicht wohlwollen, von Menschen, die nicht verstehen können oder wollen, was sie zu ihren Fluchten treibt? Die nicht fragen, was sie auf ihren Fluchten suchen, das sie im Heim nicht finden.
- Einmal im Jahr muss kontrolliert werden, ob die letztjährige Inventarliste mit den aktuellen Beständen des Sportmagazins übereinstimmt, eine düstere, ungeliebte Kellerarbeit – ideal für die Hilfskraft ‚Zivildiener’. Nach schwach beleuchteten unterirdischen Gängen öffnet sich ein Raum von einer perfekten Aufgeräumtheit: 20 Paar Alpinski, 15 Paar Alpinschuhe, 11 Paar Langlaufski, 14 Paar Schlittschuhe, Mützen, Skibrillen, Tennisschläger, Tennisbälle, Federbälle, Fußbälle, Fußballschuhe, Fußballdressen und, und … alles geordnet nebeneinander oder aufeinander gestapelt, alles in tadellosem Zustand. Ich zähle 73 Stück Fußballdressen, es sollten 75 sein, ich zähle nicht noch einmal. Es ist das erste Mal, dass ich die pedantische Ordnung des Heimes schätze.
Dieses Archiv der Dinge – für jedes Ding ein Platz, jedes Ding an seinem Platz – ist ein Traum an Ordnung. Hier hat sich jemand im Reich der Dinge seinen Traum verwirklicht, einen Traum, der in den Köpfen von Jugendlichen nicht zu verwirklichen ist – die lassen sich mit Archivmethoden nicht aufräumen.
- Zur Bewährungshilfe fahren, zum Arzt fahren, zur Krankenkasse, zur Buchhandlung, zum Arbeitsplatz der Jugendlichen, zur Schule, zum Landesgericht – und immer mit dem großen VW-Bus mit dem harten Gaspedal und der strengen Schaltung. Eigenartigerweise steht immer nur der Bus als Dienstauto zur Verfügung, wenn die Aufträge mir gelten.
- Drei Kilo Kartoffeln schälen, in Würfel schneiden, Knacker würfeln, Zwiebel anschwitzen – ich lerne, Erdäpfelgulasch zu machen. Ich lerne, ein drei-gängiges Menü, mit vorgeschriebenen finanziellen Mitteln, Punkt 12
Uhr für ein Dutzend Menschen auf den Tisch zu stellen.
Ja, doch, Herr Direktor, ich lernte bei Ihnen etwas fürs Leben.
- Bei der montägigen Teambesprechung der Erzieher bin ich nicht willkommen. Auf meine Anfrage, ob ich einmal teilnehmen könne, erhalte ich von Herrn H. eine pro forma Bewilligung. In den ersten Minuten – es wird noch gescherzt - werde ich von den Erziehern immer wieder in die Küche geschickt, um dort etwas in Ruhe vor sich hin Köchelndes zu überwachen. Wovor haben Sie Angst? Vor neuen Ideen? Davor, sich selbst und ihr Handeln in Frage stellen zu müssen? Ich ziehe mich in die Küche zurück, wohin ich offensichtlich gehören soll.
- Ich erhalte strikte Instruktionen von Gruppenleiter H. zum Thema ‚Lernbetreuung’. Ich habe mich verdächtig gemacht – die Jugendlichen lernen gerne mit mir. Da könnte ja jeder kommen und sich beliebt machen! Wenn die Jugendlichen mit jemandem gerne lernen, kann das nur bedeuten: Derjenige macht die Aufgaben für sie. Ich müsse auf Selbstständigkeit achten, d’accord, ich dürfe nur Hilfe zur Selbsthilfe geben, d’accord. Ich
dürfe nichts lehren, ich dürfe keine inhaltliche Hilfe geben, ich dürfe
lediglich auf das Buch verweisen! Ich habe nur darauf zu achten, dass sie über den Büchern sitzen und nichts anders tun, nicht Musik hören, nicht herumkritzeln. Ich kann es nicht glauben, alles in mir schreit Widerspruch. Das ist keine Pädagogik, das ist eine Zumutung, das kann ich nicht. So kann und will ich nicht arbeiten. Ich bin deprimiert. Das Leitbild dieser Gruppe, in der ich Tag für Tag verbringe, wird mir von Tag zu Tag klarer. Es lautet: ‚Je unbeliebter ein Erzieher bei den Jugendlichen ist, ein desto besserer
Erzieher ist er’.
- Manchmal glauben neu gekommene Jugendliche, sie könnten selbst Regeln bestimmen oder ihren Willen durchsetzen. Die Grenzen werden rasch sehr klar und scharf gesetzt. Ich werde den Jugendlichen nunmehr so angeboten, dass sie froh sein sollten, mit jemandem lernen zu können.
Susanne will freiwillig lernen. Ich packe meinen eigenen Mathematikunterricht aus – Lehrsatz des Pythagoras, Thaleskreis, Kartesisches Koordinatensystem, Strahlensatz - ich lehre, ich belehre nicht.
Herr Direktor, ich war gerade erst 18 geworden, bevor ich zu Ihnen kam. Gerade war ich noch einer der ihren, der Jugendlichen, gewesen. Nein, nicht gezeichnet wie sie, nicht vernachlässigt vom Leben wie sie, aber jung, gerade so jung! Und plötzlich stand ich auf der anderen Seite, der Seite der Autorität, einer rigiden Autorität, auf der Seite des Rechthabens auch ohne Argumente. Ich wollte nicht Recht haben ohne Argumente. Ich wollte die andere Seite hören, auch wenn die andere Seite die Jugendlichen waren. Herr Direktor, können Sie noch hören?
*) Dieser Text ist eine Bearbeitung eines Textes von Benjamin Stangl.
Quelle: http://www.diekunstsammlung.at/xbcr/SID-28F4C18F-B1073964/TallerClaudia_Gmunden_AB.pdf (13-12-11)
Das liest sich dann auf "Kultur" so:
Montag,17. März 2014,21:40
"Ein Jahr ist hier sehr lang - Ein Brief an eine Direktion". Von Claudia Taller. Gestaltung: Daniela Wagner
Unzählige Erfahrungen hat Claudia Taller über lange Jahre in ihrem Beruf als Kinder- und Jugendpsychologin gemacht. Im Rahmen eines einmonatigen Gastateliers des Landes Oberösterreich in der Villa Stonborough-Wittgenstein in Gmunden hat die Autorin den Text "Ein Jahr ist hier sehr lang - Ein Brief an eine Direktion" verfasst. Es ist eine weitgehend fiktionale Darstellung der Erlebnisse eines ganz jungen Zivildieners in einem Heim für Kinder und Jugendliche. Jahre nach der Ableistung des Dienstes reflektiert er, erwachsen geworden, die Geschehnisse noch einmal genau. Tagebuchartig fasst er seine Eindrücke zusammen - für sich persönlich, aber auch für den verantwortlichen Direktor des Heims, an den er seine, ihn immer noch bewegenden Fragen richtet.
Claudia Taller, geboren 1950 in Linz. Studium der Psychologie und Pädagogik an der Universität Wien. Ab 1978 Psychologin im Bereich Jugendwohlfahrt. Tätigkeit u.a. beim Europarat in Straßburg und im Außenministerium in Wien, Lehr- und Vortragstätigkeit im psychosozialen Bereich. Literarische Veröffentlichungen seit 2007. Freie Schriftstellerin seit 2012.
Quelle: http://oe1.orf.at/programm/366162 (17-04-12)