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BräunerhofWiener Wohnzimmer, Stallburggasse 2

Seit 35 Jahren befindet sich der Eingang in das Café Bräunerhof in der Stallburggasse - nicht in der Bräunergasse. Das Café existiert seit 38 Jahren – wo war der Eingang in den ersten drei Jahren?

Es gibt einen Eingang in der Bräunergasse – den Lieferanteneingang.

Es gibt dort auch eine Auslage, liebevoll gestaltet. Ein Silbertablett mit Kaffeetasse, eine silberne Schale mit drei Stück Zucker, alles schwärzlich verstaubt, auf den Zuckerkristallen ist der schwarze Staub besonders gut sichtbar. Die Zuckerwürfel kommen ursprünglich aus Böhmen, ein Klassiker seit 1843. "Mahlzeit!" kann man da nur sagen. Auch zum Rezept für den Wiener Tafelspitz, der neben einem Foto von Thomas Bernhard hängt. Das Foto, aufgenommen im Jahr 1988 von Sepp Dreissinger, zeigt Thomas Bernhard im Zopfmusterpullover, die Hände in den Hosentaschen, unter einem ovalen Spiegel sitzend - im Café Bräunerhof. Es heißt, das Café sei sein Wiener Wohnzimmer gewesen.

Im November 2007 hängen in den Fenstern neben dem Eingang in der Stallburggasse Leuchtgirlanden und bunte Kugeln. Hätte das den Beifall von Herrn Bernhard gefunden?

Im Café ist auf den ersten Blick nichts Weihnachtliches zu sehen. Die Herren Ober tragen schwarz wie immer, auch die Fliege ist schwarz. Drei Herren Ober sind unterwegs, jeder in seinem Revier. Es gibt auch eine Frau – hinter der Theke. Sie trägt keine Fliege. Die Zuckerstücke in den Glasschalen serviert mit den Kaffee- und Teetassen auf silbernen Tabletten sind von reinstem Weiß. Ebenso die Tischdecken, die für speisende Gäste auf den marmornen Tischen aufgebreitet werden. Für den Verzehr einer Suppe wird kein Tischtuch aufgelegt.

Fünf Damen in fortgeschrittenem Alter speisen das Menü – "Kalbsgulasch mit Nockerl". Bei genauerem Hinsehen befindet sich nicht nur ein Nockerl auf den Tellern. Das Kalbsgulasch wird durchaus mit mehreren "Nockerln" serviert. Die Damen speisen auf weißem Tuch. Eine der Menü essenden Damen fragt mit deutschem Akzent ihre Mitessenden, ob sie schon etwas von Thomas Bernhard gelesen hätten. Ob er schwer zu lesen sei. Die Antworten der österreichischen Mitesserinnen bleiben in den Nockerln hängen. Es ist äußerst ungewiss, ob die deutsche Dame – sie outet sich als aus Hannover kommend – je Bernhard lesen wird.

Abgesehen von dieser Konversation, die flüchtig den ehemaligen Benützer dieses Wohnzimmers streift, gibt es im ersten Raum des Cafés keinerlei Hinweise auf eben diesen. Dafür sind die Mehlspeisen und die Zeitungen zum Greifen nahe. Im zweiten Raum könnte man - beim Durchqueren mit einem Blick nach rechts – über dem Tisch gleich rechter Hand das Foto entdecken: Thomas Bernhard im Café, in dem sich der Betrachter befindet. Auf den ersten Blick meint man, es ist dasselbe wie im Lieferantenschaufenster – schauen Lieferanten in Schaufenster? Beim zweiten Blick entdeckt man, dieses Foto ist aus dem Jahr 1987. Da hatte Thomas Bernhard noch zwei Jahre zu leben. Beim dritten Hinblicken – die am Tisch unter dem Foto Sitzenden rühren bereits unangenehm berührt in ihrem Kaffee – ist man sicher. Es ist derselbe Bernhard mit der lässigen Hände-in-die-Hosentaschen-Pose, es ist derselbe Platz im Café, auf dem er sitzt. Der einzige Unterschied - dieses Foto ist eine handschriftlich beschriftet. Vom Fotographen, vom Autor? Dann hat es sich auch schon mit den Devotionalien.

Der grauhaarige Herr Ober, dem man ohne Weiteres eine persönliche Bekanntschaft mit Herrn Bernhard zutrauen würde, verneint eine solche. Er sei erst neun Jahre hier. Der zweite Herr Ober, der altersmäßig für ein persönliches Kennen noch in Frage käme - obwohl mit kreisrunder Brille und Ziegenbärtchen eigenartig bubenhaft wirkend – verneint ebenso. Er sei erst fünf Jahre hier. Zumindest kennt er den Stammplatz des gewesenen Stammgastes, im ersten Raum linker Hand im Eck. Wie alt, fragt man sich, müsste eigentlich ein Ober sein, um Thomas Bernhard noch persönlich gekannt zu haben?

Ein kleiner, fülliger Herr sitzt mit rundem Rücken über den Zeitungen. Sein Körper hat sich in Jahren des Lesens die ideale Zeitungs-Lesehaltung angeeignet. Er stützt die Zeitung samt Halterung auf dem vorgewölbten Bauch und dem Marmortisch ab. So bedarf es nur minimaler Kopf- und Augenbewegungen, um auch große Zeitungsformate von oben bis unten zu lesen. Dieser Körper könnte einer sein, der schon 1987 hier gesessen hat.

Gegen 15 Uhr – an einem Samstag oder Sonntag, auch feiertags – strömen Gäste ins Café, nicht vom Typ Zeitungsleser und –leserinnen. Sie kommen wegen des Konzertes. Wo zuvor noch Gäste saßen wird der Platz freigemacht für ein Klavier, ein Cello, eine Geige. Hinter dem Klavier und dem Cello sitzen Damen. Wienerlieder werden gegeben, ohne Gesang. Der Geiger ist weißhaarig, wieder ein möglicher Kandidat für "schon 1987 hier gewesen sein".

Der kleine füllige Herr legt die Brille auf den Marmortisch. Ausgelesen. Er lauscht der Musik, die Hände auf dem Bauch gefaltet, auch dafür ist dieser gut. Die beiden Konkaven – Rücken und Bauch – nehmen seinen runden Schädel mit dem roten Gesicht in ihre Mitte.

Die österreichisch-deutsche Damengesellschaft diskutiert über mögliche Nachspeisen. Die zu Rate gezogene Speisekarte entpuppt sich als für € 1,50

käuflich. Vor lauter Zitaten von gescheiten Menschen – wie Karl Kraus, Alfred Polgar, Anton Kuh, Milan Dubrovic und natürlich Thomas Bernhard – findet man die Mehlspeisen nicht. Von Peter Altenberg finden sich gar zwei Zitate. Im Zitat Bernhards aus "Wittgensteins Neffe" ist – natürlich – vom "Bräunerhof" die Rede. Dieses sei immer ganz gegen ihn, den Neffen, gewesen.

Sieht man den entspannt in der Polsterung lehnenden Bernhard auf den Fotos im Café und in der Lieferantenauslage eben des Cafés, in welchem er sich abbilden ließ, so kann es sich bei diesem Text nur um die stärkste literarische Be- und Verarbeitung handeln.

Leider auch nur literarisch vorhanden sind die Brandteigkrapferl aus "Ritter, Dene, Voss". Weder das Studium der Speisekarte noch dasjenige der tatsächlich aufliegenden Mehlspeisen fördern derartige Krapferl zutage. Apfelstrudel, Topfenstrudel, Sachertorte, Mohntorte – keine Krapferl aus welchem Teig auch immer. Dafür eine Glasschale mit Zapfen und Kugeln, das weihnachtliche Pendant zur Auslage.

Wendet man sich beim Verlassen des Cafés nach links, Richtung Dorotheergasse, entdeckt man im oberen Fenster, neben der schwarzen Tafel mit dem aktuellen Menü, dem Gulasch mit den Nockerln, noch einmal ein Foto des Meisters – aus dem Jahr 1988. Es ist dasselbe wie dasjenige beim Lieferanteneingangschaufenster. So sind doch Gäste und Lieferanten gleichermaßen bedient.

 

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Dieser Text entstand als Beitrag für das Literaturmagazin Litrum zum Thema "Literarische Orte".