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Die Heckklappe ist hochgeklappt. Der Sarg ist fixiert. Was ist noch zu tun? Der Pfarrer beugt sich in den Fond hinein. Er sprengt noch einmal Wasser, geweihtes. Der Sarg ist bereits gut durchfeuchtet von den Besprengungen der Dorfbewohner. Der Pfarrer betet noch ein Gebet, die Dorfbewohner beten noch einmal mit. Lisbeth schluchzt noch einmal, jetzt – vor der hochgeklappten Heckklappe – am lautesten. Ist denn ein Fahrzeug ein Grab? Die engsten Anverwandten haben jetzt die feuchtesten Augen. Der Pfarrer wünscht dem Toten eine gute Fahrt. Der Totengräber hat hier nichts zu graben, er bittet im Namen der Witwe die Geladenen zum Totenmahl. Die Anverwandten und die Dorfbewohner sehen den Totenwagen die Dorfstrasse hinunterfahren. Sie rühren sich nicht.

Lisbeth hängt sich ein. Beim leiblichen Sohn des Toten? Bei ihrem leiblichen Sohn? Lisbeth ist verwirrt. Wer war der bessere Sohn für Friedrich, den Toten? Wer hat den festeren Arm?

Lisbeth mag kein Fleisch, schon gar kein gekochtes, fasriges Rindfleisch, keinen Brei aus Semmelkren. Ihr leiblicher Sohn, der Martin, hat auf dem Dorf-Totenmahl bestanden. Die Totenmahl-Gäste reden laut. Der Pfarrer scherzt mit dem leiblichen Sohn des Toten, mit dem Gustaf. Der ist unglücklich über sein "f", er hätte lieber ein "v".

Friedrich, der Tote, war als Lebender zu Lisbeth gekommen. Er war aus der großen Stadt, aus Wien, zu ihr gekommen. Sechs Jahre war er geblieben, als Lebender, die letzten Wochen als Sterbender. Der Pfarrer ist in der Kirche den Lebenslauf des Toten lückenlos nachgegangen. Einmal hat eine Anverwandte aus der ersten Bankreihe widersprochen. Da hat der Pfarrer die Anverwandte vor der Gemeinde zurechtgewiesen. Der Pfarrer war früher Lehrer gewesen. Lisbeth hätte sich Lücken gewünscht. Das Kennenlernen vor Jahrzehnten – da war der Tote ein Verheirateter gewesen –, da hätte der Pfarrer eine Lücke lassen können. Dass ihr leiblicher Sohn vom Toten – damals Verheirateten – gefirmt worden war, was ging das die Kopftuch-Gemeinde an? Das seinerzeitige Aufeinander-Treffen – bei einer Kur – als höheres Walten darzustellen, ging an den Tatsachen nicht unwesentlich vorbei. Friedrich war damals ein attraktiver Mann gewesen. Das konnte sich im Dorf keiner vorstellen, als er 80-jährig zu ihr ins Dorf kam – enfin –endlich. Es war dieses „enfin“, das für Lisbeth jedweden Makel unsichtbar machte. Keiner im Dorf hatte gewusst von diesem „endlich“. Lisbeth selbst hatte es nicht mehr gewusst. Darf man das denken? Wenn sie doch vor ihm stürbe, sie, die Ehefrau, gegen jede Statistik. Manchmal siegt der Tod über die Statistik.

Lisbeth weiß nicht mehr, dass sie hinkt. Kinderlähmung mit 13 Monaten, ausgestoßen aus der Geschwisterreihe, der Vater früh verstorben, der einzige, der sich angenommen hatte um sie – Wirklichkeit, Verklärung? Lisbeths Mutter, Polin, war von ihrer Mutter auf der Durchreise auf einem Bahnhof im Burgenland vergessen und nie abgeholt worden.

Die Geschwisterreihe war groß. Lisbeth war die Älteste. Sie hat lernen dürfen. Einen Mann hat ihr keiner zugetraut. Sie hat die Physio-Therapeutin gewählt. Anderen helfen, wie ihr nicht geholfen worden war. Das hätte ein Vorwurf an die Mutter sein können, das war es nicht. Die Mutter war traumatisiert.

Und dann war da ein Beruf, war ein Mann – nein, er war nicht der ihre, er gehörte einer Anderen, einer in der Stadt. Er hatte auch einen Sohn, ein wenig älter als ihr Martin. Drei Wochen hatte er ihr gehört - Friedrich. Hatte er nicht ihre Behinderung gesehen? Ach ja, er hatte auch eine Behinderung, eine Verletzung, vom Krieg her. Hatte seine Behinderung sie von etwas abgehalten? Und versprochen hatte er ihr etwas. Wenn es zur Firmung kommt vom Martin, dann mache ich den Firmpaten. Und sonst hatte er ihr nichts versprochen.

Ach ja, ihr Sohn, über sein Herkommen sprach Lisbeth nicht. Nicht, dass sie die einzige der Nicht-Dorfschönen gewesen wäre mit einem unehelichen Kind, nicht dass sie den Sohn nicht geliebt hätte – aber wo war er eigentlich hergekommen? Je älter der Sohn wurde, je mehr verselbstständigte sich seine herkunftslose Existenz. Seine Herkunft war Lisbeths Trauma und die Mutter hatte auch nicht über das ihre gesprochen. Auch bei Lisbeth war es ein Bahnhof gewesen.

Und dann die späte Liebe, aufgebaut auf einem frühen Tod, dem Tod der ersten Frau. Rasch war Friedrich zu ihr gekommen, von der Stadt aufs Land. Für manche zu rasch, vor allem für Gustaf, den Sohn. Hatte Friedrich geplant, zu ihr zu kommen, sobald ...? Hatte er etwas unterlassen an Pflege, etwas beschleunigt? Lisbeth war entschlossen gewesen, ihr Glück zu genießen, es allen zu zeigen. Es war mehr als Glück, es war Genugtuung. Friedrich sollte nicht nur der Lebensgefährte sein. Sie hat auf einer Trauung bestanden, einer kirchlichen, so wie sie jetzt auf der Totenmesse im Dorf bestanden hat, auf dem feierlichen Zug durchs Dorf.

Sie war die letzte Frau. Sollten sie ihn doch im Totenwagen fahren zu seiner toten Frau in die Stadt. Lisbeth hatte ihn bei sich, zuhause, sterben lassen. Das wurde im ganzen Dorf honoriert.

Tatsächlich war es das Verdienst ihres Sohnes gewesen. Sie – Lisbeth - war bereits am Ende ihrer Kräfte gewesen, bevor es ans Sterben gegangen war.

Da waren die Zeiten der Unruhe, des nächtlichen  Umher-Wanderns, des Kontrollierens der Türschlösser. Letzte Weihnachten – nach der Mitternachtsmette – hatte Friedrich sie ausgeschlossen, aus dem eigenen Haus. Da war ein Zorn in ihr gewesen, in dieser heiligen, eisigen Nacht, eine Sehnsucht, das Haus, ihr Haus, ganz für sich zu haben. Da waren die Zeiten der Verwirrung, die Zeiten der unsinnigsten Vorwürfe, keine Klarstellung, noch so oft vorgebracht, drang zu ihm vor.

Zweimal hatte sie auf der Unterbringung in der Geriatrie bestanden, in der Kreisstadt. Jedes Mal war Friedrich in einem schlechteren Zustand zurück gekommen. Ja, sie hatte ihn nicht mehr haben wollen. Sie hatte mit Altenheimen Kontakt aufgenommen. Sie hatte einen Platz in Aussicht gehabt – fürs Frühjahr. War das unsozial gewesen? Sie hatte nicht mehr schlafen können. Ist Schlaf gegen Liebe aufzurechnen? Das war die oberflächliche, die leichte Frage. Die schwere, tief nach innen schwer werdende, war eine andere. Wie viel wog ihre Liebe?

"Ich will dich nie wieder verlieren", hatte sie zu Friedrich gesagt, als er zu ihr gekommen war ins Dorf. Das war ein Fest gewesen, ein innerliches, kein öffentliches wie der Totenzug durchs Dorf.

Und so leicht hätte sie ihn nun gehen lassen, wäre er ihr nicht zuvor gekommen.

Jetzt beim Totenmahl scherzt der Pfarrer noch immer mit dem Sohn ihres toten Mannes. Lisbeth mag ihn nicht, diesen Sohn, den leiblichen, der seine Leiblichkeit vor sich herträgt. Als Intellektueller spielt er sich auf, als Herr aus der Stadt. Jahrelang hat er nicht gesprochen mit seinem Vater, mit Friedrich. Er hat seinem Vater das Glück mit ihr nicht gegönnt. Er war es, der Friedrich verdächtigt hatte, nicht alles für die Mutter, Friedrichs Frau, getan zu haben, den Arzt nicht geholt zu haben. Dieser Gustaf ist ein Fremdkörper hier im Dorf. Und jetzt redet er ununterbrochen vom Erbe, von seinem Allein-Erbe als einziger Sohn.

Ist denn ihr Sohn kein Sohn? Ihr Sohn, der Martin, war der bessere Sohn gewesen für Friedrich. Sie – Lisbeth - hat nach so vielen vaterlosen Jahren ihrem Sohn noch einen Vater verschafft. Wie einen Vater hat der Martin den Friedrich angenommen. Das muss belohnt werden. Das hat Friedrich gesagt, das hat er auch getan. Er hat dem Martin den Zubau zum Haus bezahlt, die Garage und die Maschin' dazu. Das war nur gerecht gewesen. Und jetzt ist das Erbe geschmälert. Da geschieht dem Gustaf recht. Sie – Lisbeth – fände ihn auch mit "v" nicht sympathisch. Er hat eine Belehrung im Ton, die macht Lisbeth ganz klein. Sie will ihn hier nicht haben, in ihrem Dorf. Er stört die traurige Idylle, die sie inszeniert hat. In der Kirchenbank ist er neben ihr gesessen, der Pfarrer hat nicht gewusst, wer er ist. Solange Friedrich ein Lebender gewesen war, hatte er sich nicht blicken lassen, der Herr leibliche Sohn. Und jetzt will er den Schmuck seiner Mutter haben. Den Schmuck schenkt der Mann seiner Frau. Und wenn die erste tot ist, bekommt ihn eben die zweite. Und die zweite ist sie – Lisbeth. Seit wann erben Söhne Frauenschmuck? Und was der Friedrich ihr für ihre Liebe, ihre Sorge, ihre Pflege geschenkt hat, das geht den Herrn leiblichen Sohn gar nichts an. Pfui, über die Habsucht und den Neid. Und wer weiß, welchen Todsünden der Herr Sohn sonst noch huldigt.

In der Kirchenbank ist er neben ihr gesessen, dicht an dicht, Gott sei Dank ist Winter, die Mäntel sind dick, die Ärmel lang, da hat er die schmale Kette des Armbandes nicht gesehen.

Jetzt am Tisch hat Lisbeth das Band hoch unter den Ärmel des Kleides geschoben, der Stoff ist dick, die Kette macht keinen Abdruck. Artig ruht Lisbeths Arm neben dem Teller.

Lisbeth schaut zum Ende der Tafel. Dort, am Ende der Tafel sitzen die Geschwister. Der Traum – letzte Nacht, vorletzte Nacht? – ist da:

sie sitzt an einem holztisch, kein gedeck, kein tuch, keine kerzen, die geschwister betreten den raum, eines nach dem anderen, sie sind ganz klein und erwachsen, sie klettern auf die stühle, die um den tisch stehen, lisbeth will schreien "nein", etwas – jemand? – hält sie zurück, sie sagt "ihr seid nicht willkommen, aber wenn ihr so klein bleibt, ist es in ordnung", da klettern die geschwister auf den tisch und essen alle schüsseln, die auf einmal auf dem tisch stehen, leer, es bleibt nichts für lisbeth, sie bleibt hungrig, die geschwister verlieren ihre gesichter.

Jetzt sitzen die Geschwister am Ende der feierlichen Tafel des Dorfwirts, in alters entsprechender Größe.

Sie scherzen miteinander. Lisbeth gehört nicht zu ihnen. Sie darf nicht scherzen, nicht jetzt. Die Geschwister am Ende der Tafel lieben sie nicht – auch sie liebt sie nicht -, die Geschwister am Ende der Tafel  respektieren sie – endlich, enfin. Lisbeth hat den Sterbenden gepflegt, sie hat eine würdige Feierlichkeit für den Toten inszeniert, sie hat soeben den Leichnam wieder zurückerstattet an die tote Frau in der Stadt. So helfen die Toten den Lebenden.

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Linz 2006/07