Der Typus des Flaneur in der Literatur wird von seinem früheren Ebenbild, dem Wanderer, abgeleitet, der die Natur durchstreifte und, an dem, was er dort beobachtete, seinen Gedanken und Gefühle artikulierte. Diese Tradition geht auf die germanischen Saga zurück, wobei sich niemals zur Ruhe zu setzen auch den Wandermönchen der Frühzeit als "Gottes Weg"galt. Auch im Deutschland des 17. Jahrhunderts scheint das Motiv der Lebenswanderung vielfach auf, wobei der Spaziergänger auf der ewigen Suche nach dem Weg in die eigene Existenz erscheint.
Den Eingang in die Literatur fand er schließlich mit Edgar Allan Poes Erzählung "The man of the crowd" von 1838. Der Flaneur wird traditionell als männliches Wesen beschrieben, das als gut situierte Person mit bürgerlicher Kleidung und entweder dem Bürgertum aber auch oft dem Adel angehörig anonym, mit Vorliebe durch die Großstädte geht und schweigend beobachtet. Die Figur des Flaneurs ist aber von Anfang an weniger als reale Existenz denn als Manifestation einer Idee zu betrachten.
Flanieren ist die gemächliche Fortbewegung in der Stadt, wobei man beobachtet, beobachtet wird, sich dessen bewusst ist und sich demnach in Szene setzt. Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, in denen alle Eindrücke von Straßencafés bis zu Personen, die einem mit der vorbeilaufenden Bewegung auffallen, sich wie in einem Heimkino im Kopf zusammensetzen.
Der Spaziergang dagegen ist keine Reise, Wanderung, Flanerie oder Exkursion, auch kein Vagabundieren: das unfreiwillige ziellose Umherirren heimatloser sozialer Außenseiter oder Abenteuerdasein. Ausgangspunkt und Endpunkt sind immer gleich, so dass der Spaziergänger einen Rundgang umschreibt, eine gleichsam zentrifugale Erzählbewegung fort von der Ausgangsthematik wird durch ein erzählerisches Bestreben nach Rückkehr eben dorthin konterkariert. Scheinbar Ziellos durchgeht er, ohne Gepäck, langsam Wege in der Natur oder in ländlichen Gebieten, bleibt aber immer in überschaubaren Bahnen, so dass er nicht zum Abenteurer wird, der sich der Suche nach Grenzerfahrung immer zu verirren droht. Dem Spaziergänger wird die Lust an der Ruhe nahe gelegt und wenn er sie vor Antritt des Ausflugs noch nicht mit sich führt, so sei ihm das Spazieren ein Ritual um sich zu beruhigen. Dabei kann er sich zum Tagträumen oder zum Überdenken von Problemen hinreißen lassen oder wenn er sich in Gesellschaft befindet, sich beschaulich unterhalten. Da sich ein Spaziergänger meist innerhalb seiner gewohnten Umgebung bewegt lässt vermuten, dass sich das Erzählen in einer begrenzten Signifikanzordnung bewegt. Allen Formen des Spazierganges ist das meditative im Gehen und dem leer werden durch den entstehenden langsamen Geh- und Erzählrhythmus gleich. In einer Art Sozialisationsprozess küftet der Spaziergänger seinen Hut vor den Nachbarn und Bekannten, bleibt zum gepflegten Plausch stehen und wird über den neuesten Tratsch informiert.
Der Flaneur bezeichnet in der Folge speziell jene literarische Figur, die durch Straßen und Passagen der Großstädte mit ihrer anonymen Menschenmasse streift. Hier bietet sich ihm Stoff zur Reflexion und Erzählung. Der Flaneur (dessen weibliche Entsprechung mit der Figur der "Passante" (franz. für "Spaziergängerin") zu beschreiben ist) lässt sich durch die Menge treiben, schwimmt mit dem Strom, hält nicht inne, grüßt andere Flaneure obenhin. Der Flaneur ist intellektuell und gewinnt seine Reflexionen aus kleinen Beobachtungen. Er lässt sich sehen, aber sieht auch, wenngleich mit leichter Gleichgültigkeit. Der Flaneur in all seiner Dandyhaftigkeit stellt ein wichtiges Thema der - vor allem weltstädtischen - individualisierten Kunst dar, auch der Lebenskunst. Sein weibliches Äquivalent der "Passante" tritt insbesondere in den Werken Marcel Prousts auf, der seine weiblichen Charaktere als schwer greifbare, vorbeiziehende Figuren portraitierte, die seine obsessive und besitzergreifende Perspektive auf sie ignorierten (vgl. À La Recherche Du Temps Perdu).
In der Literatur des beginnenden 20.Jahrhunderts, bei Rilke, Walser, Aragon, Hessel u.a., wird der Flaneur zum Typus des neuen Großstadtbewohners und Protagonisten der Moderne per se, der mit interesseloser Neugier die Bewegungen der Boulevards und der Stadt verfolgt und eine neue Ästhetik der Stadtwahrnehmung entstehen läßt. Wie der Begriff des Boulevards ist auch der "Flaneur" im Französischen erstmals um 1810 nachgewiesen. Literarischer Vertreter ist unter anderen Charles Baudelaire, der das Interesse hegte sich als dandyhaften Flaneur zu präsentieren und sich so in die Pariser Gesellschaft der Kulturmetropole des ausgehenden 19. Jahrhundert zu integrieren. Während der Flaneur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch häufig als reiner Müßiggänger und Faulpelz beschrieben wird, erkennt Baudelaire in ihm den "artiste, homme du monde, homme des foules et enfant", den Beobachter und bewussten Spiegel der Masse. Der Flaneur ist auf der Suche nach der "modernité", indem er versucht, aus den flüchtigen, aktuellen Eindrücke seiner Stadtwanderungen eine überzeitliche Schönheit zu destillieren, "l'éternelle du transitoire". Für Walter Benjamin ist der Flaneur Süchtiger und Melancholiker, Voyeur/Detektiv und Verdächtiger zugleich. Er interpretiert die Möglichkeiten des öffentlichen Raumes, die Langsamkeit ist sein Credo. Er ist ein Verächter der großen historischen Reminiszenzen, er erfühlt eher, als dass er spricht.
Franz Hessel definiert das Flanieren als eine Art "Lektüre der Stadt", die Stadt wird zum Text, der mannigfaltige Lesarten zulässt. Die Stadt ist für den Flaneur wie ein gut zu lesendes Buch und die Architektur wie dessen Buchstaben, die durch das Verhalten der Menschen lesbar gemacht und gerade durch diese einen lebhaften Charakter bekommen. Als die Hauptstadt der Flanerie des 19. Jahrhunderts wird die Stadt Paris gesehen. Durch ihre architektonische Neuordnung unter Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts, sowie gleichzeitig der Erhaltung der verwinkelten Viertel rund um das Zentrum, wurden neue Lebensarten und ein Anstieg der Geschwindigkeit des Alltags ermöglicht. Neue Kultur- und somit auch soziale Phänomene traten auf, schockierten, frustrierten, aber faszinierten den Flaneur zugleich.
Die Stadt, gesehen als Labyrinth oder Dschungel, in der sich der Flaneur bewegt, ist in sofern als sein Text zu sehen, als dass zwischen der Stadt und dem Text als tertium comparationis das Zeichen steht. Zeichen der Stadt als architektonisches Gefüge mit human-soziologischem Inhalt sind die spezifischen Details, die wie in einem textualen Gefüge lesbar sind. Sie offenbaren sich dem Flaneur mit einem steten Kontext und lassen sich somit als eine Art Geschichte lesen. Als eine Art Katalog sind immer wieder kehrende Bilder (Straßenzüge, typische situationsbedingte Bilder) zu sehen, die auftretende Rasanz des Lebens in der Großstadt durch die stete Veränderung des Stadtbildes lässt kleine und große Geschichten sichtbar werden. Des Weiteren drückt sich die Vergänglichkeit in den verschiedenen Bereichen immer wieder aus und hebt gleichzeitig die aufkommende Moderne hervor.
Nicht nur die Literaturwissenschaft hat dem Spaziergang ein eigenes Feld eingeräumt, auch die empirischen Kulturwissenschaften oder die Kunstgeschichte haben sich mit dem Phänomen befasst. Der Spaziergang gilt als typisch bürgerliches Verhaltensmuster. Die historische Wahrnehmung oder Eingrenzung der Thematik fand aber erst in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts statt, als es en Vogue war in der Geistes- und Sozialwissenschaft über die Ursprünge der bürgerlichen Gesellschaft zu resümieren.
[The flaneur inspired by Charles Baudelaire; https://www.youtube.com/watch?v=ixiOzXeyKiE]
bezeichnet in manchen Fällen einen angestellten Flaneur auf Zeit, häufig ausgeschrieben als kommunaler Literaturpreis, meist mit kostenloser Wohnung in der entsprechenden Gemeinde verbunden. Das erste Stadtschreiberamt als literarische Auszeichnung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht auf den Autor der Gruppe 47 Franz-Joseph Schneider zurück, der in seiner Heimatstadt Bergen-Enkheim Kommunalpolitiker für seine Idee des Stadtschreibers von Bergen begeistern konnte. Nicht selten kommentiert dieser in seinen Texten das alltägliche Geschehen in der Stadt, das er auf seinen Streifzügen in seiner literarischen Arbeit auf künstlerische Weise in der spezifischen Sprache der Literatur bricht.
Der elektronische Flaneur hat viele Gemeinsamkeiten mit dem alten Typus des Flaneurs. Er ist der öffentliche Zuschauer, dessen Teilnahme am Internet durch das Zählen der Zugriffe auf einzelne Seiten offensichtlich wird. Seine Schaulust befriedigt sich beim Umherstreifen im Netz durch den Besuch von privaten Homepages und Websites, bei denen via Webcam das Leben normaler Menschen ins Netz gestellt wurde. Das Internetportal wird als virtueller Boulevard vom elektronischen Flaneur bewandert. Wie beim Boulevard handelt es sich beim Internet um eine Verschmelzung von Lebensform und Modernität. Allerdings steht hier nicht die Ästhetik im Vordergrund, sondern die Funktionalität. Auch das Internetportal ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Wandlung, die besonders bei Intellektuellen sichtbar wird. War das Medium Computer noch vor ein paar Jahren als Untergang der abendländischen Kultur verpönt, so werden seine Möglichkeiten jetzt immer stärker anerkannt und genutzt. Den elektronischen Flaneur gibt es wie den Flaneur des 19. Jahrhunderts in den verschiedensten Ausprägungen: den Voyeur, der seine Schaulust in Chatrooms und auf Homepages stillt, den Melancholiker, den (Surf- oder Chat-) Süchtigen, den Einsamen.
[Wandula - Videoclipe "Le Flâneur": https://www.youtube.com/watch?v=CUawDsxlW1E]
Quellen
http://de.wikipedia.org/wiki/Flaneur (07-08-12)
http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/59406.html (07-08-12)
http://www.culture.hu-berlin.de/sp/WS_00_01/wired/Boulevards/flaneur.html (07-08-12)
http://www.culture.hu-berlin.de/sp/WS_00_01/wired/oeffentlich/NewFiles/flaneur.html (07-08-12)
http://de.wikipedia.org/wiki/Stadtschreiber_%28Literaturpreis%29 (07-08-12)
http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/lit/26631.html (07-08-12)
Bildquellen
http://architektur.stangl.eu/texte/oeffentlicher_raum1.jpg (07-07-07)
http://architektur.stangl.eu/texte/oeffentlicher_raum.jpg (07-07-07)
(W.S.)
"Licht, Farbe, Bewegung – Drei Begriffe, die das Œuvre von Philipp Geist beschreiben ULRIKE SCHICK
Light, Colour, Movement – Three Concepts in Philipp Geist’s Oeuvre - ULRIKE SCHICK" (www.videogeist.de/text.htm)
"Denkbilder e passages - I passages della flânerie: Kracauer e Benjamin" (http://margininversi.blogspot.co.at/2013/07/denkbilder-e-passages.html)
"ClaudiaTittel: Medienfassaden - Die Stadt als Display" (http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2012-4/tittel-claudia-8/PDF/tittel.pdf)
"Die Konzeption des Künstler-Flaneuers der Moderne" (http://dokumente-online.com/die-konzeption-des-kuenstler-flaneuers-der_4.html)
"Wort- und Sinngleiche" (https://wortundsinngleiche.wordpress.com/category/flaneur/)